✈ Beijing Reloaded - auf der Suche nach Mister Shi

Noch vor Herbstbeginn, während die Pfingstrosenblüten im Jingshanpark ihre schönsten Farben zeigen - so rund eine Woche vor dem traditionellen Mondfest - war es an der Zeit, diese alte Karte hervorzukramen. Eine Visitenkarte, die ich einst von einem Kollegen aus dem Cockpit erhalten habe. Kein eindeutiger Hinweis: Mr.Shi. Dazu noch ein paar chinesische Zeichen. Ich wusste zwar "Irgendwo in Peking“, aber nicht, worauf ich mich da einlassen würde..

 

Wer für Beijing lediglich 72 Stunden Zeit hat, gerät nur schwer in die Versuchung, die Stadt tatsächlich zu verlassen, um auf Erkundungsreise quer durchs Land zu fahren. Die Vielzahl an Gerüchen, die unüberschaubaren Märkte und der dadurch entstehende Appetit auf die "echte" asiatische Küche malen dabei das Bild einer Metropole, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Am Flughafen angekommen, vorbei am hochgebührigen Währungswechsler, handelt man noch schnell den Limousinendienst auf 200 Yuan (rund 25 Euro) runter und das Abenteuer in der 21 Millionen Einwohnerstadt kann beginnen.

Für den Tag der Ankunft haben wir uns zur Einstimmung eine kulturell mal eher leichte Kost überlegt: Schnäppchenjagd am Hongqiao Pearlmarket im Bezirk Dongcheng. Was für viele jetzt vielleicht nach Shoppingtour klingen mag, gleicht eher einer interaktiven Leistungsschau in den Disziplinen Fälschen und Feilschen. Ja, man bekommt hier einfach alles: Eine "4K GoPro" mit der Auflösung eines alten Nokia Schiffs für Nostalgiker, Beats-Kopfhörer ohne Lautsprecher, dafür mit aktiver Rauschunterdrückung und Lithium-Ionen-Akkus mit der Detonationswirkung von einem halben Kilogramm Semtex. 2 Stunden später, 1125 Yuan (150 Euro) ärmer und mit einem leicht-schlechten Gewissen ging es vollbepackt zurück ins Hotel. 

 

Den ersten Abend wollten wir bei traditionellem Chinese Food ausklingen lassen. Schon mit Stil, dennoch weit weg von dem massenkompatiblen Euro-Asien-Essen aus dem Wiener Nobelbezirk. Für Anfänger sehr gut geeignet, da sich nichts mehr bewegt, empfiehlt sich das - im letzten China Beitrag bereits erwähnte - Green Tea Restaurant in der Fortune Shoppingmall. Relativ preiswert, denn "einmal die gesamte Karte" erhält man um nur umgerechnet 60 Euro. Und das reicht dann auch bestimmt für sechs Personen. Statt Coca Cola bestellt man sich gleich eine der hausgemachten Limos. Das Tsingtao (Biermarke) wird hier prinzipiell erst zwei Jahre über dem Ablaufdatum serviert, was die Frage erübrigt, ob zur Barbecueduck nicht auch ein gutes Bier passen würde.

Am nächsten Tag ging es im geräumigen Privattaxibus vom Hotel nach Badaling, zu einem guten erhaltenen und dementsprechend beliebten Teil der über 21.000 km langen Chinesischen Mauer. Zu viert kostet der Ausflug - inklusive anderthalbstündiger An- und Rückreise, sowie dem Skilifttransport direkt zum Hotspot - um die 50 Euro. Der Fahrer wartet währenddessen - gern auch mehrere Stunden - beim nahegelegenen Subway. Der umfangreiche Service rund um das Weltwunder wird nur noch durch die dortige Aussicht übertroffen. Ein bewaldeter Bezirkszug, soweit das Auge reicht. Gewaltige Mauervorsprünge zeichnen dabei eine Silhouette durch den Horizont. Kaum ein Bauwerk dieser Welt hat mich bisher fester in seinen Bann ziehen können. Angemessenes Wanderschuhwerk ist dabei empfehlenswert und eine gewisse Kondition von Vorteil.

 

Am dritten Tag war es dann soweit: Laut lokaler Auskunft befindet sich der sagenumwobene Mr.Shi in der berüchtigten Baochao Hutong. Einem Stadtteil, von dem einem die Einheimischen gerne abraten. Unbeeindruckt der Schilderungen machten wir uns dennoch auf die Suche nach einem kostengünstigen Transportmittel dorthin. In China fährt man Taxi und auch wenn man aufgrund der Sprachbarrieren und der offensichtlich-ausländischen Herkunft gern abgewiesen wird, sollte man keinesfalls locker lassen, denn nach rund einer Stunde trägt man bereits den verzweifelten Gesichtsausdruck vor sich her, der beim einen oder anderen Taxifahrer etwas Erbarmen entlockt, "Fremde" doch mitzunehmen. Verhandlungsbasis beim Transportpreis? Wohl kaum. Deshalb empfiehlt es sich bereits vor Fahrtantritt, den Chauffeur höflichst auf sein "Taxameter" hinzuweisen. Litong hieß der gute Mann, der uns zu Mr.Shi bringen sollte. Als vermutlich einer der wenigen englisch-sprechenden Bürger dieser Stadt riet auch er uns davon ab, die "Hutongs" zu besuchen. Unsere Neugierde wuchs dabei ins Unermessliche. Während der halbstündigen Fahrt ging es vorbei an der Sanlitun, Chinas eindrucksvollem Beweis, die Philosophie des Westens verstanden zu haben. Applestore, Edelboutiquen und das Amüsementviertel der Stadt erwecken den Eindruck, dass die Globalisierung auch hierzulande schon weit fortgeschritten war. Doch ehe wir uns die Frage stellen konnten, wo nun endlich dieses Peking - bekannt aus Film und Fernsehen - ist, standen wir bereits davor. Eine Gasse, in der man alte Lampenschirme als Straßenbeleuchtung nutzte. Düstere Gestalten, die uns - auf Autoreifen sitzend - Blicke zugeworfen haben, die man zu Hause nur selten zu Gesicht bekommt. Die Türen gingen auf. Wir bezahlten, während Litong noch mit dem Finger auf den dunkelsten Winkel der Hauptstraße zeigte:"Baochao Hutong". Ehe wir uns umdrehen konnten, um uns zu verabschieden, war der nette Fahrer aber auch schon weg. 


Wo waren wir hier bloß gelandet? Ein staubiges, eingeschlagenes Glasfenster, dahinter eine alte Dame auf einem noch älteren Schaukelstuhl, den nur noch Gottes Gnade zusammenhielt. Sie summte eine atonale Melodie und häkelte eine Art Decke. Keine Kinder - weit und breit. Dennoch trug diese Gasse letztendlich den Charme in sich, nach dem wir uns seit Beginn unserer Reise bereits gesehnt hatten. Relikte aus der Zeit von Mao zierten die brüchigen Fassaden. Gegrillt, gekocht, gedealt wird in den Hinterhöfen. Dazwischen renoviert. Einem der Arbeiter haben wir ein paar hundert Yuan zugesteckt. Für ein Foto. Einem anderen für die Auskunft nach Mr.Shi. Wir trafen dabei auf eine Gruppe junger Osteuropäer, die wohl den kleinen Laden "Serbian Burger" gegenüber betreibt. Aussteiger vermutlich. Bei ihnen saß ein junges Mädchen in einem roten Kleid. Ortsansässig, mongolischer Herkunft. Profession ungewiss. Wir konnten uns nur schwer ihrer Gastfreundschaft entreißen, nahmen Platz, tranken mit ihnen ein Glas Pinyin (Anm. traditioneller chinesischer Wein) und sprachen über "Good old Europe". Eine knappe Stunde später - es war bereits Abend geworden - brachen wir auf. Wir wollten Mr.Shi nicht weiter warten lassen und diesen Ort verlassen. Bevor es Nacht werden würde.

 

Während meiner Reisen versuche ich das Profil des Touristen - soweit es möglich ist - abzulegen. Anstatt eines 10 Euro Reiseführers mit den gesponserten "Hotspots" schätze ich die Erfahrungen Einheimischer und der Crew. Die charakteristischen Bewegungen der Ortsansässigen werden studiert. Straßenkarten sind für mich ohnehin nur ein Souvenir. Einzig meine Kamera sollte mich entlarven, doch nur ein Besucher aus einer anderen Welt zu sein. Wir standen nun davor. Die Schriftzeichen meiner Visitenkarte noch mit denen an der unscheinbaren Eingangstür abgeglichen, traten wir schließlich ein. Wir hatten das Gefühl, dass man uns bereits erwartet hatte, als uns eine junge Dame bat, doch Platz zu nehmen. Nachdem wir uns setzten, überreichte sie uns ein Schriftstück mit chinesischen Zeichen. Dazu eine englischsprachige Übersetzung: "Dumplings". Wir waren also in einem chinesischen Restaurant, deren Küche authentischer nicht sein konnte. Die Hinterhofoptik entsprach auch nicht der gebotenen Qualität. Eine Bestellung quer durch die Speisekarte offenbarte uns weitaus mehr als acht Schätze, in einem der kulinarischen Highlights unserer Tour: Grüne Schoten mit Chili als Vorspeise. Ein Dumpling-Potpourri war der Hauptgang. Und diejenigen, die das Abenteuer suchen, entscheiden sich für die Spicy Noodles, ehe sie sich an den Wänden der Pilgerstätte für immer verewigen dürfen.


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Kommentare: 1
  • #1

    Hermann S. (Sonntag, 30 Oktober 2016)

    Wieder mal toller Text und tolle Fotos von Va Len (Tina) ;-)
    LGH